Als Lippstadt den Kreissitz verlor

Von 1965 bis 1978 fanden in allen Flächenländern der damaligen westdeutschen Bundesrepublik räumliche Neuordnungsmaßnahmen statt. In Nordrhein-Westfalen wurde die kommunale Gebietsreform ab dem Jahr 1966 in zwei großen Schritten durchgeführt. Für die Region an Glenne und Lippe war das am Neujahrstag 1975 in Kraft getretene Münster/Hamm-Gesetz maßgeblich, mit dem die Stadt Lippstadt vor 50 Jahren den seit 1817 in ihren Gemäuern bestehenden Sitz der Kreisverwaltung verlor.

Von Hans Zaremba über die Gebietsneuordnung in 1975

Lippstadt in den Grenzen nach der Gebietsneuordnung zum 1. Januar 1975:
Bis auf den in dieser Karte abgebildeten Stadtteil Lipperbruch und die Kernstadt waren alle anderen dörflichen Ortsteile bis zum 31. Dezember 1974 eigenständige Gemeinden.
Quelle: Sammlung Hans Zaremba

Neuordnung für Lippstadt

Infolge der vom Landtag in Düsseldorf im Juli 1974 beschlossenen Regelungen wurden die bis zum 31. Dezember 1974 eigenständigen Gemeinden Benninghausen, Bökenförde, Cappel, Dedinghausen, Eickelborn, Esbeck, Garfeln, Hellinghausen, Herringhausen, Hörste, Lipperode, Lohe, Overhagen, Rebbeke und Rixbeck sowie Teile von Liesborn (Bad Waldliesborn) und Ermsinghausen (Gut Schwarzenraben) in das Gebiet von Lippstadt integriert. Dadurch erweiterte sich die Fläche Lippstadts von ehemals 29,82 auf heute 113,3 Quadratkilometer und die Einwohnerzahl wuchs am 1.  Januar 1975 von zirka  44.000 auf rund 67.000. Da mit den Veränderungen vom 1. Januar 1975 die neuen Ortsteile in die Stadt Lippstadt eingegliedert und nicht mit der Kernstadt zusammengeschlossen wurden, blieb die vormalige Stadt Lippstadt juristisch bestehen. Somit galt ihr gesamtes Ortsrecht ab 1975 für die Kernstadt und die neuen dörflichen Stadtteile. Das bedeutete zudem die Fortführung der Amtszeit des vor fünf Jahrzehnten noch ehrenamtlich tätigen Bürgermeisters Dr. Gerhard Wolf (1935-2020) aus der FDP, der nach dem Tod des Sozialdemokraten Jakob Koenen (1907-1974) ein knappes Jahr vor der Gebietsreform von der damaligen SPD/FDP-Mehrheit im Stadtrat gewählt worden war. Parallel nominierten zu jener Zeit die im Rat vertretenen Fraktionen von CDU, SPD und FDP einige kommunalpolitische Akteure aus den Lippstadt zugeordneten Gemeinden als sachkundige Bürgerinnen und Bürger, um sie bereits in der Übergangszeit bis zur Kommunalwahl im Mai 1975 für die Lokalpolitik zu gewinnen. Im Vorfeld der gesetzlichen Schritte gab es ferner die Absicht, ebenso Bad Westernkotten, Mantinghausen und Mastholte mit Lippstadt zu verbinden, was jedoch im Zuge der verschiedenen Anhörungen verworfen wurde. Ähnlich wie das Lippstädter Ansinnen, auch Benteler (heute Ortsteil von Langenberg), Langeneike (Geseke), Weckinghausen (Erwitte) und Westenholz (Delbrück) ins Stadtgebiet aufzunehmen. Übrigens: Der gesamte Katalog eines größeren Lippstadts stammte vom Stadtdirektor Friedrich Wilhelm Herhaus (1927-2014). Diese von ihm erstellte Liste wurde zur offiziellen Lippstädter Stellungnahme zum von der Landesregierung in Nordrhein-Westfalen verfügten Vorhaben für die heimische Region.

Anhörung zur Zukunft von Mastholte:
Als Sprecherin der Stadt Lippstadt vertrat die spätere Lippstädter Bürgermeisterin Dr. Barbara Christ am Freitag, 3. Oktober 1969, im Haus Schallück in Wiedenbrück vor dem Neuordnungsausschuss der Landesregierung die Position ihrer Heimatstadt.
Quelle: Stadtarchiv Lippstadt

Neuordnung auf Kreisebene

Von unterschiedlichen Interessen geleitet war überdies der Zuschnitt des heutigen Großkreises Soest. Dazu ein kurzer Rückblick: Ende der 1960er Jahre stand fest, dass die Kreise Lippstadt und Soest in einem Großkreis aufgehen sollten. Die Neugestaltung im Altkreis Soest war bereits in 1969 abgeschlossen. In diesem Landstrich waren neben den größer gewordenen Städten Soest und Werl die Großgemeinden Bad Sassendorf, Ense, Möhnesee, Welver und Wickede sowie Lippetal (aus den vorher selbständigen Kommunen Herzfeld und Lippborg im Kreis Beckum sowie Hovestadt im Altkreis Soest) gebildet worden, während Eickelborn und Lohe vorerst draußen blieben. Sie gelangten bei der Umsetzung der Gebietsreform für den Altkreis Lippstadt im Januar 1975 zur Stadt Lippstadt. Von 1969 bis 1974 wurden die beiden Orte von der Verwaltungsgemeinschaft Lippetal betreut. Vor der Neustrukturierung von Lippstadt und seiner benachbarten Kommunen waren etliche Betrachtungen zur Umsetzung der Neuordnung nach der gesetzlichen Aufgabe der Ämterverfassung für den benachbarten Raum von Lippstadt zu verzeichnen, wie sie von der inzwischen in den Ruhestand getretenen Soester Kreisarchivarin Beatrix Pusch in ihrem in 2003 veröffentlichten Buch „Die kommunale Neugliederung im Kreis Soest“geschildert werden. So hatte der Oberkreisdirektor des bis Ende 1974 bestehenden Kreises Beckum, Winfried Schulte (1921-2006),im Jahr 1971 vorgeschlagen, aus den eigenständigen Gemeinden Diestedde, Liesborn und Wadersloh, die bereits mit dem Amt Liesborn-Wadersloh einen einheitlichen Versorgungsbereich hatten, die Großgemeinde Wadersloh zu bilden. Das fand bei den drei Kommunen überwiegend Zustimmung. Darüber hinaus galt es lange als ausgemacht, dass der noch bis zum 31. Dezember 1974 bestehende Amtsbezirk Liesborn-Wadersloh mit den heutigen Ortsteilen Diestedde, Liesborn und Wadersloh der zum 1. Januar 1975 geschaffenen Großgemeinde Wadersloh in den neuen Kreis Lippstadt/Soest aufgehen würde.

Vorkämpfer für ein größeres Lippstadt:
Stadtdirektor Friedrich Wilhelm Herhaus bei der Anhörung zur kommunalen Neuordnung in der Halle Münsterland am Mittwoch, 30. Januar 1974. Von dem Chef der Lippstädter Verwaltung im Stadthaus am Ostwall stammte der Vorschlag, die Stadt Lippstadt im Zuge der Neuordnung in 1975 mit den benachbarten Gemeinden Mastholte im damaligen Nachbarkreis Wiedenbrück und Westenholz im Kreis Paderborn zu verbinden.
Quelle: Stadtarchiv Lippstadt

  Neuordnung für Wadersloh

Eine Erwartung, über die bereits im Juni 1972 die Beckumer Lokalausgabe der in Münster verlegten Tageszeitung „Westfälische Nachrichten“ berichtete. Dem zitierten Blatt war zu entnehmen: „Danach wird – so darf man aus den Äußerungen schließen – das Innenministerium dem Kabinett und dieses wiederum dem Landtag vorschlagen, den Ortsteil Bad Waldliesborn der Stadt Lippstadt einzugliedern und die verbleibenden Gemeinden des Amtes Liesborn-Wadersloh, also Diestedde, Liesborn (Rest) und Wadersloh, zu einer Großgemeinde zusammenzuschließen und dem zukünftigen Kreis Soest-Lippstadt zuzuteilen.“ Der folgende Gesetzentwurf der Landesregierung sah gleichfalls eine Einreihung des nun als Gemeinde Wadersloh bezeichneten Raumes in den künftigen Großkreis Lippstadt-Soest vor, nannte als Alternative zu diesem Hauptvorschlag aber auch eine Aufnahme dieser Gemeinde in den gleichzeitig im Aufbau befindlichen Großkreis Beckum-Warendorf. Die Vorkämpfer für eine Einordnung von Wadersloh in den künftigen Kreis Lippstadt/Soest stützten sich auf die Empfehlung der nach dem Ministerialdirigenten im Düsseldorfer Innenministerium, Heinz Köstering (1922-2018), benannten Kommission für die Gebietsreform, die am Rande des Münsterlandes entstehende Großgemeinde in den zu bildenden Kreis Lippstadt/Soest aufzunehmen. Für Lippstadt war diese Erwägung gewiss ein Vorteil im Wettbewerb mit Soest, welche der bisherigen Kreisstädte der vor ihrer Verschmelzung stehenden Altkreise Soest und Lippstadt den künftigen Kreissitz bekommen sollte. Daneben hatten sich die Lippstädter durch den Bau des 1969 an der Lipperoder Straße seiner Bestimmung übergebenen neuen Kreishauses – das fünf Jahrzehnte nach der Gebietsreform Dienststellen des Landesamtes für Natur und Verbraucherschutz und der Justiz beherbergt – auf die Übernahme des Verwaltungssitzes nach dem Abschluss der Zusammenführung der Altkreise zum neuen Kreisgebilde vorbereitet. Zweifellos gewährte das Kreishaus in der Nähe des Grünen Winkels „eine funktionsgerechtere Abwicklung der Dienstgeschäfte, bei guten Entwicklungsmöglichkeiten“, was die im Mai 1973 vom Institut für Landeskunde in Bad Godesberg zum Vergleich von Soest und Lippstadt als Sitz des künftigen Großkreises Lippstadt-Soest vorgelegte Untersuchung bekräftigte.   

Das in 1969 seiner Bestimmung übergebene Kreishaus an der Lipperoder Straße:
Es sollte für Lippstadt bei der Vergabe des Verwaltungssitzes des neuen Großkreises den entscheidenden Vorteil bringen.
Quelle: Kreisarchiv Soest

Schlag aus Düsseldorf

Von Beatrix Pusch wird in ihrer Abhandlung zur endgültigen Kreisangehörigkeit der Großgemeinde Wadersloh nach den Äußerungen aus dem Ausschuss für Verwaltungsreform ausgeführt: „Während die SPD-Fraktion die Regierungsvorlage unterstützt (Zuordnung von Wadersloh zum neuen Kreis Soest), möchte die CDU-Fraktion die Gemeinde Wadersloh dem Kreis Warendorf zuordnen.“ Die zweite Lesung des Münster/Hamm-Gesetzes besiegelte schließlich die Eingliederung von Wadersloh in den aus den Altkreisen Beckum und Warendorf geschaffenen Großkreis Warendorf. Damit blieb Lippstadt weiterhin ohne größeres Umland und eine Grenzkommune in direkter Nähe zu den Kreisen Gütersloh, Paderborn und Warendorf. Für die Stadt Lippstadt eine herbe Enttäuschung und ein offenkundiger Nachteil zum Soester Konkurrenten, der sich im teilweise leidenschaftlich geführten Disput bei der Vergabe des Sitzes des neuen Großkreises durchsetzen konnte. Der Lippstädter Heimatchronist Dr. Anton Hans Meyer (1905-1982) benennt in seiner Rückschau auf 1973 in der 1989 herausgegebenen Chronik „Unsere Lippe-Stadt 1964-1988“ die sich zum Ende des Jahres 1973 abzeichnende Entscheidung der Landespolitik zugunsten des Kreissitzes für Soest zutreffend als einen „(Vor-) Schlag aus Düsseldorf“. Die Folge war der Verlust von rund 400 Arbeitsplätzen und mit den Jahren der Abzug etlicher anderer Institutionen aus Lippstadt. So unter anderem die Kreisstelle der Landwirtschaftskammer mit ihrer angegliederten Landwirtschaftsschule und die Kreishandwerkerschaft. Gleichfalls verlegten die Gewerkschaften nach und nach ihre Anlaufpunkte von Lippstadt in andere Orte. Von der ÖTV (Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr), heute Teil der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft (Ver.di), über die IGM (Industriegewerkschaft Metall) bis zum DGB (Deutscher Gewerkschaftsbund). Ein kleiner Lichtblick angesichts dieser Abwanderungswelle ist die Entscheidung zugunsten von Lippstadt als juristischen Sitz der heutigen Sparkasse Hellweg-Lippe, die zum 1. Januar  2023 aus der Fusion der damaligen Institute Lippstadt und Soest/Werl entstand. Einen Rückblick auf die Gebietsreform von 1975 und eine Betrachtung zur Gegenwart will der Verein zur Aufarbeitung der Geschichte der Arbeiterbewegung in der Region von Lippstadt in seiner öffentlichen Veranstaltung am Dienstag, 6. Mai 2025, 18.00 Uhr, im Nicolaiforum in der Cappelstraße 54 vornehmen.